30 April 2015

Marathon in Hamburg mit Eis in (oder einem an?) der Waffel


Das kann dabei rauskommen!  Beim Marathonjogging ohne auch nur halbwegs stimmige Vorbereitung und in weitestgehend demoralisierter weil physisch und psychisch geschwächter Verfassung. Ob's empfehlenswert ist? Die Antwort darauf mögen andere geben oder es bleiben lassen. Für mich hat's gepasst und war richtig.

Die 12 Vorbereitungswochen, in denen der Plan einer Planerfüllung der Planlosigkeit anderer Lebensumstände hatte weichen müssen, lassen sich grob zusammengefasst mit der Aufzeichnung aus dem Kilometerspiel (s.u.) wiedergeben. Wobei ich versichere: für mich fühlte es sich intensiver und "dramatischer" aber auf jeden Fall bestimmender an als es sich auf der Kilometerspiel-Aufzeichnung liest.

Nur mühsam hielt ich überhaupt einen Rest "Kontakt zur Lauferei" aufrecht. Wäre die Hamburg-Anmeldung nicht, ich hätte vermutlich monatelang Laufpause eingelegt, fühlte mich der Lauferei innerlich entfremdet.
Wieder gesund aber längst nicht fit, einige Kilo zugenommen, täglich ein paar Ziaretten paffend, der trübsinnige, unkonzentrierte Geist auf alles gerichtet nur nicht auf das Laufen längerer Strecken, so fuhr ich los nach Hamburg.

ging in KW6 noch gut los ... aber dann ... geplant war anders

Hamburg lange vorher gebucht mit Hotel (ohne Stornooption), Sparpreisfahrkarten incl. weiterer Besuchsschlenkerfahrten auf dem Rückweg, Urlaub eingereicht und genehmigt, der Länderpunkt im Länderspiel noch offen, blieb im Grunde keine andere Möglichkeit als zumindest erstmal hinzufahren und zu sehen, was sich dort ergeben wird.

Die Selbstentfremdung wich auch vor Ort nicht. Wurde jedoch abgemildert durch einige der typischen kleinen Begegnungen mit Fremden und aufmunternden größeren Verabredungen mit  Bekannten, den Wortgeplänkeln voller Vor-Aufregung. Die ansteckende Atmosphäre der Marathonmesse, Startungerlagenausgabe, die etwas fremde und gleichzeitig etwas bekannte Stadt aus neuem Blickwinkel, das alles trug dazu bei, auch mich dem Laufen und auch dem kommenden Marathon etwas näher zu bringen. Als Mantra wählte ich: "Die paar Kilometerchen lassen sich schon irgendwie rumbringen. Zielzeit ist ja lang genug"

Blicke aus dem Fenster und auf die Wettervorhersage verhießen einmütig Mist-(bzw. auf Hamburgisch Schiet-)Wetter. Nasse Straßen, Regen, kühl. Damit verabschiedete sich aus meinem Hirn die gelegentlich darin wabernde Idee, eine "Besenwagenbegleitreportage" von "Ganz Hinten" zu erwandern. Als bekennende Schönwetterläuferin verabscheue ich Regen. Noch dazu, wenn's kühl ist.



Der Hypnosestand vor Laufbeginn dicht umdrängt und stark gefragt - mich selber auch anzustellen, dazu fehlte mir die Ruhe. Dabei hätte ich gerne gewusst, welche magischen Worte und Griffe  es sind, die der Hypnotiseur den Läufern angedeihen lässt. Die Neugierde war nicht groß genug für eine Warteschlange - auch diejenigen vor den Toilettenhäuschen ließ ich aus. Unruhige Beine, unruhiger Geist. Lass es losgehen, dann hab' ich's schneller hinter mir. Ließ mich von der Menge willen- und gedankenlos in die Startblöcke spülen.
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die beiden Balla-Sträflinge vor dem Start



Luftballons steigen in den wolkenverhangenen Himmel

Den Startschuss hatte ich nicht mitbekommen aber schon nach ca. 10 Minuten die Startmatte unter den Füßen. Läufermassen strömten jubelnd und energiegeladen  an mir vorbei - ich hielt mich in den komfortabel breiten Straßen ganz rechts und extrem zurück. Wusste: LANGSAM IST PFLICHT! Nahm mir 7:30er Kilometerschnitt vor, der erste ging mit 7 Minuten über die Bühne und fühlte sich an als hätte ich mich mühsam selber festgeklebt: schleichend, extremjoggelnd - alles um mich herum stürmte kraftstrotzend los wie junge Fohlen. Selber zügelte ich den alten kranken Gaul streng und blieb langsam. Sieben Minuten? zu schnell! zügeln, zügeln, zügeln .... ein paar Fotos gemacht, dann bremst sich das von alleine ...

auf der Reeperbahn morgens um halb zehn ... mit Tränensäcken, die vermuten lassen, ich hätte dort die Nacht durchgemacht

Immer wieder nieselte es schwach, hörte kurz auf, nieselte erneut,  später dann stärker, es wurde zu Regen - auf der zweiten Hälfte mit zeitweise heftigen durchnässenden starken Schauern. Nicht mein Wetter und doch war mir sehr früh bewusst, dass genau das half, mich frisch zu fühlen, den Kreislauf stark und stabil zu halten. Jedenfalls mir.




Hamburg ohne Automassen auf den Straßen gefällt mir nochmal deutlich besser.


Das Streckenpublikum, das dem Wetter trotze, feuerte sehr motivierend an. Die Stimmung empfand ich als uneingeschränkt positiv.


Sightseeing-Marathon der Extraklasse. Perfekt organisiert, tolles Ambiente - in allen Punkten TOP!



Irgendwann nach Kilometer 15 und einer Pinkelpause mit Warten vor dem Dixiklo kamen allererste kleine Ermüdungserscheinungen bei mir auf. Positiv gedeutet sagte ich mir:
"Also schon 15 Kilometer gelaufen ohne groß was davon gemerkt zu haben. Ist doch prima!",

Bei jeder Pause, ob am Dixiklo, Versorgungsstand oder zu sonstigen Zwecken, wackelte ich mir die bekannten Problemstellen: in meinem Fall innere und hintere Oberschenkel - bewusst ein bisschen locker durch. Schlackerte alles hin und her, walkte die Schenkel mit den Händen durch, hier ein paar Dehnstrecker, dort ein Stückchen Rückwärtslaufen und auf der Stelle hoppsen  ...  Ohne, dass sie irgendwelche Muckse von sich gegeben hätten wurden sie wach, aufmerksam und umtüddelt gehalten, die Muskeln am Körper. . Aus leidvoller Erfahrung erinnerte ich mich gut an die vielen Marathons, die sich bis ca. Kilometer 30 locker angefühlt hatten um dort recht plötzlich alles am Körper zu hartem Stahl, in den schmerzhaft zuckende Blitze fahren,  mutieren zu lassen, was nicht in Hochform ist.


Viele, viele große und  kleine Stimmungspunkte unterwegs  mit Musik, Anregungen, Ablenkungen.

Dem Versorgungsstand vor dem HM, der zum ersten Mal Gels im Angebot hatte, waren selbige ausgegangen. Dabei hatte ich geplant, einige davon einzuwerfen - bisschen Placebo konnte in meiner Situation nur gut tun. Nun musste ich mich mit Bananen begnügen - bekam jedoch später nach Halbmarathon noch mehrere (sehr lecker schmeckende! die Marke hab ich gerade vergessen - war aber das beste derartige Zeug, das mir bisher untergekommen ist!) Gels, weitere Bananen, trank Iso und Cola ... Prima Versorgung und bei meinem Jogging-Tempo lässt sich die auch ausgiebig würdigen.

Kurz vor Halbmarathonmarke an der Seite ein kleiner privater (? oder war das doch Werbung?)  Bierstand. Junge Kerle boten allen vorbeilaufenden Männern Bier (mit Alkohol) an. Als ich vorbeikam, stand nur ein einziger trinkend am Stand - ich wurde nicht gefragt und lief zunächst vorbei.

"Wieso fragen die eigentlich MICH nicht? Ich bin doch direkt an jedem der Leute und hautnah am Stand vorbeigelaufen? Die haben nur die Männer angesprochen ..." PAH" Ich drehe um, gehe zurück: "ähhh ... gilt das Angebot nur für die Jungs oder darf ich auch eins haben?"

Ich bekam mein Bier, trank den Plastikbecher in kurzen schnellen Zügen komplett leer, schloss zum Sträflingskostüm auf, das in dem Moment an mir vorbeijoggte und gemeinsam mit Chief-Balla überquerte ich die Halbmarathonmarke.

Verabschiedete mich wieder, joggte gemütlich weiter und spürte an den nassen Füßen ganz leise eine Reibestelle, die eventuell ein Blase würde werden wollen. Bei KM 26 standen Sanitäter am Rand - es regnete im Moment nicht. Ich steuerte auf sie zu: "Sagen Sie, haben Sie auch sowas banales wie Blasenpflaster?" Hatten sie nicht. "Normales" Pflaster boten sie mir an - dafür müsse ich sie aber ins Sanizelt begleiten. Was ich tat.

Wurde gebeten, mich hinzusetzen. Gegenüber eine Läuferin mit Sauerstffmaske, doch einige Sanis auch ohne konkrete Beschäftigung. Mir schien, dass ihnen langweilig ist und ich gerade recht komme. So saß ich nun, hoffte auf ein flottes Pflaster auf den Fuß, den ich fluggs entblößte. Weniger fluggs streifte sich einer der Sanitäter gemütlichst aus der Box gezogene Einmal-Latex-Handschuhe über.

Ein anderer fragte mich nach Namen und Geburtsdatum und notierte alles ausführlichst in seinen Unterlagen. "ähhh ... ich wollte doch nur ein kleines Pflaster ... damit das keine Blase wird ... ist auch gar nicht wirklich nötig ... nur vorsichtshalber .. " Sie waren freundlich, ließen sich aber nicht beirren. Während der Behandschuhte immer noch gemütlich eine sterile Pflasterpackung öffnete, mit einer - gemütlich natürlich - ausgepackten sterilen Schere sorgfältigst und in Zeitlupe einen kleinen Streifen davon abschnitt, stellte mir der zweite diverse Fragen zum Allgemein- und Gesundheitsbefinden.

"ähhmm .. also: mir geht das gut. Ich bin total fit und will gleich weiterlaufen. Brauche wirklich nur das kleine Pflaster für die - gucken Sie: ist  noch gar keine Blase. Nur eine kleine rote Reibestelle am Fuß. Sonst nix! Alles gut!" Sie guckten sich tatsächlich ausführlich meinen ihnen entgegengestreckten Fuß auch noch an .... die hatten die Ruhe weg ;o)

So gemütlich das im Sanizelt war, Kaffeekränzchen und Wurzeln schlagen mussten auch nicht sein und so nutzte ich hinterhältig den Moment, in dem sich der behandschuhte Sanitäter mit dem inzwischen ausgepellten Pflasterstreifen zu mir herunterbeugte, schnappte ihm ungefragt das Ding  aus der Hand, entfernte die Schutzfolie von den Klebestreifen und pappte es endlich selber auf den Fuß. Strümpfe wieder an, Schuhe an und zugebunden. Bisschen flott jetzt. Hab's zwar nicht soo eilig aber mein persönliches Grundtempo ist auch ohne Marathon einen Ticken höher als das hier im Zelt ;) "Danke! War ganz nett von Ihnen - ich lauf' dann mal weiter." und verschwand winkend wieder in Richtung Laufstrecke.

negativer Split und ungewohnt "gleichmäßig" ;)


Ab  jetzt rollte es plötzlich erst richtig, es fühlte sich jedenfalls für mich so an. Die Reibestelle weg, die Beine wieder frisch und locker, der Regen so nervig und stärker werdend, dass ich es aus der WetterWarte noch schneller hinter mich bringen wollte. Legte ein paar Kohlen auf und brachte mehrere gefühlt ziemlich flotte Kilometer hinter mich. Die Uhr, die ohnehin nur die Uhrzeit anzeigte und diese nichmal korrekt,  hatte ich fast nie im Blick, Zeit blieb während des Laufs ein weitgehend nur gefühlter Wert ohne große Bedeutung.


Bei Kilometer 41 ein Eisstand und in meiner Tasche ein durchnässter Papiergutschein für eine Kugel Eis von genau dort. Dummerweise die Strecke hier komplett hinter Absperrungen - verlassen und selber kaufen unmöglich. Ich bitte eine Zuschauerin, mir ein Eis zu holen: Schokolade natürlich!

Sie tut es, muss etwas warten. Bis sie mit dem Eis zurückkommt, werde ich von den anderen Zuschauern dort reichlich verständnislos angesehen. Versuche zu erklären, dass es bei meiner Zeit wirklich keine Rolle mehr spielt, ob ich hier noch ein paar Minütchen auf mein Eis warte ... merke aber, dass die Erwartungen der Zuschauer bei Kilometer 41 anders gelagert sind.

Weiter mit Eiswaffel in der Hand, ziehe ich allerdings die Blicke der von Meter zu Meter dichter werdendenden Zuschauermenge stärker auf mich als mir lieb ist. Ein Junge kräht laut: "Mamaaa, guck doch mal: die Frau da isst ein Eis!" Und jetzt sehen es alle - diese Frau mit der Waffel in der Hand ... die hat doch sicher einen an der selbigen .. Viele - viel mehr als unterwegs auf der Strecke - lesen nun meinen Vornamen von der Startnummer ab und rufen ihn mir zu. Anfeuernd, lachend, zweifelnd. Viele mit kleinen Begleitkommentaren von: "Elisabeth,  das ist ein Marathon und kein Strandspaziergang!" bis (viel häufiger) "das ist ja cool, ey!"

Die freundliche Eiskäuferin schoss auch noch ein Foto. Danke unbekannterweise dafür!

Der Lauf über die Ziellinie nach 5:11:37 fühlte sich absolut unspektakulär an. Müde war ich. Das schon. Etwas mehr als 42 Kilometer sind kein Pappenstiel  - noch dazu im weitgehend untrainierten Zustand. Doch als ich wahrnahm, dass um mich herum viele in sich zusammensanken, zu humpeln begannen, die Gesichter in Weinen, Triumph, Glück, Erleichterung oder Erschöpfung unter- bzw. aufgingen. Sah, wieviele Menschen um mich herum diesen Moment als einen emotional starken, besonderen erlebten, da schlich sich doch kurz die Entfremdung wieder ein, die mich mir selber jedoch näher brachte. Und dem Laufen. Bei mir fühlte sich alles "normal" an. Stimmig. Zusammengehörig. Richtig. Erschöpft aber nicht kaputt. Nur kalt war mir. Schnorrte mir zur super Verpflegung an den Sponsorenständen im Ziel von einer qualmenden Staffeltruppe eine Zigarette, holte den Klamotten-Seesack ab, zog mich gemütlich um (ohne Krämpfe, Bück- oder Schuhbändelzubind-Probleme ... alles easy ...) und verschwand zum ausgiebigen Duschen und Ausschlafen im Hotel.

Und dann?: am nächsten Tag zwar Muskelkater - aber nicht extrem. Keine Krämpfe, keine sonstigen negativen Nachwirkungen. Im Gegenteil! Wieder lauflustig, voller Ideen und Pläne für die nächste Zeit. Wieder da! (ohne Zigaretten inzwischen und mit aufgefrischtem Ernährungstagebuch) Motiviert wie verrückt. Danke an Hamburg. Schöne Stadt - auch bei Regen. Toller Marathon!


Fotos von unterwegs bzw. Marathonfoto.com

Statistik: s. Bild oben oder Ergebnislisten ;)

Elftes Bundesland  im Länderspiel hiermit abgehakt :o)